1. Dezember 2007
zum 175. Todestag Johann Wolfgang von Goethes
"Gebt ihr euch einmal für Poeten,
so kommandiert die Poesie.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit"
(Goethe, Faust I)
Goethe! - Seltsamer, naiver, arroganter, reicher und vor allem wirklichkeitsfremder Goethe! - So vielseitig sein hinterlassenes Werk ist, so immens und mittlerweile doch unüberschaubar die
Sekundärliteratur zu diesem seinem Werk und seinem Leben wohl auch geworden ist, so unfassbar bleibt uns der Kern seiner Existenz.
Wer sich also heutzutage mit diesem Universalgenie im Sinne Gero von Wilperts befassen will, der hat die schier unlösbare Aufgabe vor sich, sich durch nahezu endloses Primär- wie auch
Sekundärmaterial zu arbeiten, wozu wohl ein einziges Menschenleben, selbst wenn sich jener Mensch ausschließlich nur damit befassen würde, nicht ausreicht. Goethe ist unter so vielen
unterschiedlichen Aspekten immer und immer wieder von den Wissenschaften durchleuchtet und erforscht worden, dass es scheint, es gäbe nichts Neues mehr zu entdecken.
Und dennoch ist es gerade die Universalität seines Seins und Schaffens, die immer wieder neue Fragen und Rätsel aufwirft, immer wieder neue Möglichkeiten aufzeigt, wie man sich ihm annähern kann,
wenn man denn dazu bereit ist, sich auf ihn als Mensch und als Künstler einzulassen; man darf sich freilich nicht vor der in den letzten zweihundert Jahren aufgebauten Hoheit seiner Person und seiner
oft propagierten Unantastbarkeit abschrecken lassen. Auch Goethe hat nur mit Wasser gekocht, auch er war nur ein Mensch mit allen menschlichen Eigenschaften, Fehlern, Schwächen und
Möglichkeiten.
Wenden wir uns also zunächst einmal dem Menschen zu, der er war.Er selbst hat wohl nur einmal den Versuch gewagt, das eigene Wesen frei von poetischen Verhüllungen zu beschreiben, Das
Bezeichnende an diesem Fragment gebliebenen Text ist, dass es eben Fragment blieb, Skizze blieb, die Goethe zurückbehielt, denn diese eigene Charakteristik ging ihm wohl schon gegenüber anderen
Menschen und vor allem vor sich selbst zu weit:
"lmmer tätiger, nach innen und außen fortwirkender, poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz. Da dieser Trieb rastos ist, so muß er, um sich nicht stofflos
selbst zu verzehren, sich nach außen wenden und, da er nicht beschauend, sondern nur praktisch ist, nach außen ihrer Richtung entgegenwirken. Daher die vielen falschen Tendenzen zur bildenden Kunst,
zu der er kein Organ, zum tätigen Leben, wozu er keine Biegsamkeit, zu den Wissenschaiten, wozu er nicht genug Beharrlichkeit hat. Da er sich aber gegen alle drei bildend verhält, auf Realität des
Stoffs und Gehalts und auf Einheit und Schicklichkeit der Form überall dringen muß, so sind selbst diese falschen Richtungen des Strebens nicht unfruchtbar nach außen und innen. [...] In Geschäften
ist er brauchbar, wenn dasselbe einer gewissen Folge bedarf und zuletzt auf irgendeine Weise ein dauerndes Werk daraus entspringt oder wenigstens unterwegs immer etwas Gebildetes erscheint. Bei
Hindernissen hat er keine Biegsamkeit, aber er gibt nach, er widersteht mit Gewalt, er dauert aus oder er wirft weg, je nachdem seine Überzeugung oder seine Stimmung es ihm im Augenblicke gebieten.
Er kann alles geschehen lassen, was geschieht und was Bedürfnis, Kunst und Handwerk hervorbringen; nur dann muss er die Augen wegkehren, wenn die Menschen nach Instinkt handeln und nach Zwecken zu
handeln sich anmaßen. [...] Eine Besonderheit, die ihn als Künstler als auch als Menschen immer bestimmt, ist die Reizbarkeit und Beweglichkeit, welche sogleich die Stimmung von dem gegenwärtigen
Gegenstand empfängt, und ihn also entweder fliehen oder sich mit ihm vereinigen muß. So ist es mit Büchem, mit Menschen und Gesellschaften; er darf nicht lesen, ohne durch das Buch bestimmt zu
werden; er ist nicht gestimmt, ohne dass er, die Richtung sei ihm so wenig eigen als möglich, tätig dagegen zu wirken und etwas Ähnliches hervorzubringen strebt."
(zit. nach Peter Bömer, Johann Wolfgang von Goethe, S. 81)
Dieser letzte Blick ins eigene lch war für ihn wohl schon zu privat, zu intim, denn er berührte jene "Geheimnisse des Lebens", zu deren Vergegenwärtigung sich wohl "selten eine
Stunde findet". lhn prägte eine ihn ständig bedrängende Unruhe, und seine dichterischen und autobiographischen Werke wollte er verstanden wissen als "Bruchstücke einer großen
Konfession".
Zeitgenossen hatten Mühe, seinen Charakter zu beschreiben. Sie gingen sogar soweit zu behaupten, sein Wesen sei im Grunde überhaupt nicht beschreibbar, da er ihnen immer
wieder "entschlüpfe". Bedrückende Erlebnisse aus seiner Kindheit deutete er selbst immer nur vorsichtig an, persönliche Dinge ließ er in Briefen immer gegenüber den Bezügen nach außen
zurücktreten und mit dem zunehmenden Alter verschleierte er ganz bewusst Dinge, seine innere Existenz betreffend, hinter abstrahierenden Maximen. Ist Goethe also fassbar und doch unfassbar? lst er
endlich und doch unendlich?
Goethe war nie wirklich Faust, er war auch nie Wilhelm Meister. Werthers Geschick war nur ein Teil seines Erlebens und so geht es mit vielen seiner Figuren und Szenarien. Das vorliegende Stück, das
aus Segmenten und Auszügen seiner eigenen Stücke - mit strukturierenden Elementen angereichert - gestrickt ist, will sich vorrangig dem Menschen Goethe widmen, will eine Annäherung versuchen, indem
es den Dichter mit zentralen, wichtigen Figuren aus seinem Leben aber auch aus seinem Werk konfrontiert und sich austauschen lässt.
Illustriert werden dabei einige seiner lyrischen Werke durch die Musik; Vertonungen von Ludwig van Beethoven (1770-1827), Franz Schubert (1797-1828) und Carl Loewe (1796-1869) stehen stellvertretend
für viele Künstler, die sich dem Werk Goethes in entsprechender Form angenommen haben.
Über Beethoven, der ihm eine achtungsvolle Zuneigung erwies, äußerte sich Goethe eher kritisch:
"Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein ist er leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich
dadurch weder für sich noch für andere genussreicher macht."
Mit Carl Loewe, einem damals jungen, ihn bewundernden Menschen, hatte Goethe eine flüchtige Begegnung im Jahr 1820 in Jena. Man sprach über das Wesen der Ballade und über andere Werke Goethes, mit
denen sich Loewe sehr intensiv auseinander gesetzt hatte. Goethe lud Loewe sogar zu seinen freitäglichen musikalischen Abenden nach Weimar ein, wo er, Goethe, sich freuen würde, "dort meine
Dichtungen in ihrer Musik wiederzuhören".
Zum Abschluss dieser einleitenden Worte nun noch einige Bemerkungen zu Goethes Frauen. Derer hat es wohl in seinem langen Leben eine Menge gegeben, die alle unterschiedlichen Charakters und Standes
waren. In der vorliegenden Annäherung wurde dieser Komplex auf zwei der wichtigsten Frauen aus Goethes Leben und der, wie ich finde, wichtigsten weiblichen Bühnengestalt Goethes konzentriert;
Charlotte von Stein, Christiane Vulpius und lphigenie. Die ersten beiden, weil sie trotzallem das genaue Gegenteil voneinander waren und genau die inneren Bedürfnisse Goethes auf ihre jeweilige Art
befriedigten und die andere, weil sie zu den emanzipiertesten Frauengestalten der Literaturgeschichte zählt.
In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß mit der aleatorischen Auseinandersetzung mit Goethes Werken und der versuchten Annäherung an ihn als Mensch.